Sie stehen alleine oder in Gruppen, verharren andächtig oder sind in Bewegung. Große, liebevoll bemalte Figuren, lebensgroß bis überdimensioniert, die Opa Hans von gegenüber, Frau Müller von nebenan auf liebenswerte Weise darstellen könnten. Ältere Herren im Smoking stehen auf einem Museumsdach, biedere Nonnen in ihrer dunklen Tracht betrachten eine Kirche. Ein paar Schwimmerinnen, mollig und im welligen Badeanzug, mit Kappen bekleidet, sind geradewegs auf dem Weg ins Wasser. Nichts Ungewöhnliches, es sei denn, man wundert sich, dass die älteren Frauen Surfbretter unterm Arm tragen. Ein kleiner humorvoller Bruch im ansonsten braven Bild, das die großmütterliche Damengruppe bietet. Meist sind es Blitzeinfälle von Christel Lechner, die solche Installationen entstehen lassen. Kunst zum Anfassen – jenseits der musealen Inszenierung findet sie im öffentlichen Raum ein begeistertes Publikum. Ein demokratischer Ansatz: Kunst für alle, weg von der Hochkultur in Ausstellungshallen, hin zum Alltag der Menschen. In Fußgängerzonen oder Parkanlagen wecken die temporär aufgestellten Figuren große Aufmerksamkeit und bieten den Betrachtern Gelegenheit, sich einzureihen, sich gemeinsam mit den Gestalten knipsen zu lassen und darüber nachzusinnen, wer das Vorbild für die lebensechten Skulpturen gewesen sein könnte und woraus sie hergestellt sind.

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© HeidelbergCement (Steffen Fuchs)Ausgabe 2/2017
Die Kunst, sich selbst genug zu sein
Alltagsmenschen aus Beton
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Kunst ist schön, macht aber Arbeit
Jeweils für drei Monate verleiht die Künstlerin ihre Skulpturen und Skulpturengruppen an Städte und Gemeinden oder gibt sie zu Ausstellungen. Vor Ort sucht sie geeignete Standorte oder stellt die Installationen entsprechend zusammen. Die aufwendig gefertigten Figuren werden auch immer wieder von Kunstinteressierten für private Zwecke gekauft. Gleichwohl kann man vielen von ihnen an öffentlichen Orten begegnen, und gleichzeitig die Interaktion zwischen den realen Menschen und den stets sympathischen Alltagsmenschen beobachten. So trifft stapelweise Fanpost auf dem überraschend idyllisch gelegenen Lechnerhof bei Witten ein. Dem Wunsch nach einem Tag der offenen Tür oder Atelierbesuchen kann Christel Lechner aus Zeitgründen nur noch selten nachkommen. Zu aufwendig sind Vorbereitung und Durchführung eigener Veranstaltungen. Mit Kunsthistorikerin Dr. Manuela Borkenstein steht ihr längst eine Assistentin zur Seite, die Vermarktung und Abwicklung ihres Kunstbetriebs koordiniert. Auch ihre Tochter, Malerin und Meisterschülerin von Kunstprofessor Peter Doig an der Kunstakademie Düsseldorf, unterstützt zusammen mit weiteren Helferinnen die Arbeit im Team, etwa durch das sorgfältige Bemalen der Alltagsmenschen. Zwei langjährige Mitarbeiter helfen beim Bau der Unterkonstruktion der Figuren, dem Betonieren mit einem Spezialbeton und der Montage auf einer Stahlplatte. Auch der Transport der bis zu 150 Kilogramm schweren Einzelfiguren an die jeweiligen Ausstellungsorte wird mittels angemietetem 7,5-Tonner selbst organisiert und durchgeführt.
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Ein Projekt ohne Ende
So vielschichtig wie reale Menschen sind auch die Alltagsmenschen. Keine Skulptur gleicht der anderen. Sorgfältig angezogen, sprich bemalt, mit freundlichen Gesichtern, einnehmend und vertraut treten sie uns gegenüber. So ist auch die Idee zu einem Biografieprojekt entstanden, das Schüler und Schülerinnen ermuntert, sich mögliche Lebensgeschichten zu den einzelnen fiktiven Persönlichkeiten auszudenken. Das weckt ein Geschichtsbewusstsein, das auch im Alltag zum Tragen kommen kann und Neugierde weckt im Umgang mit der Familie oder den Mitmenschen. Für Christel Lechner war die Konzentration auf das Skulpturieren von Alltagsmenschen, die für sich eine Insel gefunden haben und ein Stück Zufriedenheit ausstrahlen, ein bewusster Akt, der sich nie vom Zeitgeist oder einem angesagten Kunsttrend hat leiten oder irritieren lassen. So birgt die scheinbare Naivität dieser Figuren eine Tiefe, die sich jedem Einzelnen auf individuelle Weise erschließen kann. Autor Wolfgang Zemter, der frühere, langjährige Leiter des Märkischen Museums in Witten, hat es so formuliert: „Mittlerweile sind sie in die heiligen Museumshallen eingezogen, besetzen die Innenstädte, bewohnen Parkflächen und Bürgersteige, erklimmen Dächer. Ob oben oder unten, bodenständig muten sie uns an. Weit weg von der Reklamerealität thematisieren sie die kleinen Eigenheiten der Menschen, bilden die leisen und unspektakulären Zwischentöne ab. Gerade deshalb sind sie andererseits auch überaus spektakulär.“
„Gesichter, die eine Geschichte zu erzählen haben, sind viel spannender als ein perfekter Teint und eine makellose Haut.“
Christel Lechner ist – so wie es die potenziellen Biografien ihrer Alltagsmenschen entgegen dem äußeren Anschein auch sein könnten – alles andere als bieder. Schon als junge Frau gründete die 1947 geborene Künstlerin zusammen mit ihrem Mann ein familiäres Mehrgenerationenprojekt, das sie nun mit ihrer Tochter und den Enkeln weiterführt. 40 Jahre lang hat sie in einer Band gesungen, lange Zeit bewohnte sie während der Sommermonate ein Hausboot in Amsterdam, das als kulturelle Kleinbühne diente. Das Töpfern von Kleinteiligem war der Keramikmeisterin bald zu banal, über den Bau großer Schalen kam sie zum Werkstoff Beton und fand 1988 ihr Lebensthema im Bau der großen Skulpturen.
Kann das Alltägliche Kunst sein, soll Kunst nicht Außergewöhnliches darstellen und außerdem kritisch sein? Fragen, die sich für Christel Lechner leicht beantworten lassen. Es geht ihr um Menschen, die Ausstrahlung haben, stolz und jenseits jedes Schönheitsideals selbstbewusst und mit sich und ihrem Inneren im Gleichklang sind. Allein das ist Kritik genug an einer Welt, die sich dem Diktat von Mode, Aussehen, Jugendlichkeitswahn unterworfen hat. Die Alltagsmenschen spiegeln, dass es auch anders geht. „Gesichter, die eine Geschichte zu erzählen haben, sind viel spannender als ein perfekter Teint und eine makellose Haut“, meint sie. „Die Alltagsmenschen sind aus mir herausgesprudelt. Und je älter ich werde, desto mehr nehmen sie Züge von mir an“.